Juni 2004-Thema
Zusammengestellt von Roger Heinke

Der Kuss

Der Kuss ist wie eine nonverbale Sprache, der in verschiedenen Regionen seinen eigenen Dialekt entwickelt hat. Während der Österreicher einer Dame aus Höflichkeit und Respekt die Hand küsst, ist die Geste in Italien ein Zeichen großer Vertraulichkeit. Sie bleibt engen Freunden vorbehalten. Im asiatischen Raum gehört das Küssen fast ausschließlich ins Private. Auch in Europa war der öffentliche Kuss lange Zeit verpönt. Inzwischen ist er gebilligt als Zeichen von Zuneigung, zur Begrüßung oder als Glückwunsch.
Überall in der Welt ist die Bedeutung eines Kusses jedoch eng damit verknüpft, auf welche Körperstelle des anderen der Küssende seine Lippen legt:

Warum Küssen Spaß macht

Ende des 19. Jahrhunderts sorgte der erste Filmkuss für einen Skandal. Heute sind romantische Lippenbekenntnisse wie das zwischen Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart in "Casablanca" echte Klassiker, Küsse im Kino gang und gäbe. Doch wie schön die Leinwandküsse auch sind, sie reichen längst nicht an das prickelnde Gefühl heran, es selbst zu tun.
Dabei ist ein inniger Liebeskuss rein chemisch betrachtet gar nicht so verlockend: Mit dem Speichel tauschen die züngelnden Partner bis zu neun Milligramm Wasser aus. Ebenso wechseln organische Substanzen, Fette und Salze, Bakterien und Viren den Besitzer.
Hinzu kommt: Ein intensiver Kuss ist echte Muskelarbeit. Während wir ein Naserümpfen schon mit drei Muskeln zustande bringen, sind Lippenbewegungen relativ aufwändig. Mehrere Muskeln, die kreisförmig um den Mund liegen, bewegen Ober- und Unterlippe vor und zurück. Sie sind verbunden mit dem Modiolus. Dieser kleine Muskelstrang sitzt am Mundwinkel, dem beweglichsten Teil der Gesichtsmuskulatur. Von hier aus leistet er die Hauptarbeit beim Küssen: Er koordiniert alle Einzelmuskeln und sorgt für die Vielfalt von Mund- und Wangenbewegungen.
Doch das interessiert uns alles wenig, wenn wir küssen. Was zählt, ist die weiche, warme Berührung, der Geschmack und der Geruch des anderen. Oft schließen wir die Augen, um das Spiel der Lippen ganz bewusst zu genießen. Gleichzeitig arbeitet das Herz schneller. Der Puls kann von 60 oder 80 Schlägen pro Minute auf bis zu 150 ansteigen. Die Gefäße weiten sich, die Haut wird durchblutet, die Lippen schwellen an. Der Kuss wird zum biologischen Wellness-Programm.
Zugleich ist er ein positiver Kick für die Seele. Dafür sorgen vor allem die Endorphine, so genannte Glückshormone. Der Körper schüttet sie vermehrt aus, wenn wir uns liebevoll küssen. Im Zwischen- und Großhirn sorgen die chemischen Botenstoffe für ein wahres Stimmungshoch. Wir fühlen uns glücklich, geborgen und wohl.

Der Ursprung des Küssens

Männer und Frauen, Alte und Junge, Bewohner unterschiedlicher Kontinente - alle kennen und pflegen den Kuss. Er ist Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation. Dabei hatte die Sitte, sich mit den Lippen zu berühren, am Anfang unserer Entwicklungsgeschichte vermutlich eine ganz andere Bedeutung als heute: Sie sicherte unser Überleben.
"Atzkuss" heißt diese mögliche Quelle des Küssens im Fachjargon. Der Begriff bezeichnet die ursprünglich bei Mensch und Tier übliche Mund-zu-Mund-Fütterung. Die Mutter versorgte ihren Nachwuchs, indem sie ihm mit den Lippen vorgekaute Nahrung oder zerkleinerte Bissen reichte. Bei vielen Naturvölkern ist diese sorgsame Form der Fütterung weiterhin gang und gäbe. Überwiegend haben jedoch Flasche und Löffel die Mund-zu-Mund-Fütterung ersetzt.
Studien zeigen allerdings: Babys besitzen immer noch einen Reflex, der diesem Fütterungsritual entspringen könnte. Nähert die Mutter ihre Lippen dem drei Monate alten Kind, wölbt es ihr seine entgegen. Berühren ihre Lippen die des Säuglings, schiebt er seine Zunge vor und leckt am Mund der Mutter. Ganz so, als wolle er etwas zu essen empfangen.
Eine denkbare Vorstufe des Küssens beobachteten Verhaltensbiologen bei den Menschenaffen. Schimpansen füttern nicht nur ihren Nachwuchs von Mund zu Mund. Auch erwachsene Tiere überreichen sich hin und wieder mit den Lippen etwas Nahrhaftes. Darüber hinaus begrüßen sich einander freundlich gesonnene Exemplare mit einer kussähnlichen "Leergeste": Sie berühren sich mit den Lippen, ohne dass dabei Futter im Spiel ist.
Und es gibt eine auffällige Parallele zwischen dem ursprünglichen Atzkuss und der modernen Geste, die noch heute besteht: Bei der Mund-zu-Mund-Fütterung brachte die Mutter dem Kind Zärtlichkeit und Nähe entgegen. Das Kleine fühlte sich geborgen und wohl. Wir vermitteln mit einem Kuss Verbundenheit, Liebe und Freundschaft. Und fühlen uns sicher und akzeptiert, wenn wir geküsst werden.

- Roger Heinke -

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