Juni
2004-Thema
Zusammengestellt
von Roger Heinke
Der Kuss
Der
Kuss ist wie eine nonverbale Sprache, der in verschiedenen Regionen
seinen eigenen Dialekt entwickelt hat. Während der Österreicher
einer Dame aus Höflichkeit und Respekt die Hand küsst,
ist die Geste in Italien ein Zeichen großer Vertraulichkeit.
Sie bleibt engen Freunden vorbehalten. Im asiatischen Raum gehört
das Küssen fast ausschließlich ins Private. Auch in
Europa war der öffentliche Kuss lange Zeit verpönt.
Inzwischen ist er gebilligt als Zeichen von Zuneigung, zur Begrüßung
oder als Glückwunsch.
Überall in der Welt ist die Bedeutung eines Kusses jedoch
eng damit verknüpft, auf welche Körperstelle des anderen
der Küssende seine Lippen legt:
- Weit oben auf der Werteskala
steht der Mundkuss. Er war zunächst ein Familienritual und
stand für Nähe, aber auch für Versöhnung.
Heute ist er der Inbegriff für Vertrauen und Liebe zwischen
Gleichrangigen.
- Am weitesten verbreitet ist
der Wangenkuss. Früher wie heute gilt er als Gruß
und zeigt Achtung für einen Freund. Die Zahl der Küsse
schwankt. Die Franzosen etwa bevorzugen drei bis vier, den Deutschen
genügen ein bis zwei.
- Stirnküsse sind selten
geworden. Zwischen Erwachsenen wirken sie feierlich und ernst.
Ursprünglich huldigt dieser Kuss der Körperregion,
die den Geist beherbergt. Er achtet die Weisheit und den Mut
des anderen, der "die Stirn bietet".
- Küsse auf Augen und
Ohren waren schon immer zärtlich, denn die bedachten Organe
sind weich und empfindlich. Die sanfte Berührung symbolisiert:
Der Gebende ehrt die Sinne und die Seele des Nehmenden.
- Ein Handkuss demonstriert
Respekt. Früher verneigte sich der Diener vor dem Herrn,
das Volk vor dem Herrscher. Heute begrüßt in edler
Runde der Herr die Dame mit einem angedeuteten Handkuss.
- Der inzwischen eher unmoderne
Fußkuss rangiert am Ende der Werteskala. Der Rangniedere
oder Besiegte kniet oder liegt dem Stärkeren zu Füßen.
Mit seinem Kuss bekennt er sich zu seiner Unterlegenheit.
Warum Küssen Spaß macht
Ende
des 19. Jahrhunderts sorgte der erste Filmkuss für einen
Skandal. Heute sind romantische Lippenbekenntnisse wie das zwischen
Ingrid Bergmann und Humphrey Bogart in "Casablanca"
echte Klassiker, Küsse im Kino gang und gäbe. Doch wie
schön die Leinwandküsse auch sind, sie reichen längst
nicht an das prickelnde Gefühl heran, es selbst zu tun.
Dabei ist ein inniger Liebeskuss rein chemisch betrachtet gar
nicht so verlockend: Mit dem Speichel tauschen die züngelnden
Partner bis zu neun Milligramm Wasser aus. Ebenso wechseln organische
Substanzen, Fette und Salze, Bakterien und Viren den Besitzer.
Hinzu kommt: Ein intensiver Kuss ist echte Muskelarbeit. Während
wir ein Naserümpfen schon mit drei Muskeln zustande bringen,
sind Lippenbewegungen relativ aufwändig. Mehrere Muskeln,
die kreisförmig um den Mund liegen, bewegen Ober- und Unterlippe
vor und zurück. Sie sind verbunden mit dem Modiolus. Dieser
kleine Muskelstrang sitzt am Mundwinkel, dem beweglichsten Teil
der Gesichtsmuskulatur. Von hier aus leistet er die Hauptarbeit
beim Küssen: Er koordiniert alle Einzelmuskeln und sorgt
für die Vielfalt von Mund- und Wangenbewegungen.
Doch das interessiert uns alles wenig, wenn wir küssen. Was
zählt, ist die weiche, warme Berührung, der Geschmack
und der Geruch des anderen. Oft schließen wir die Augen,
um das Spiel der Lippen ganz bewusst zu genießen. Gleichzeitig
arbeitet das Herz schneller. Der Puls kann von 60 oder 80 Schlägen
pro Minute auf bis zu 150 ansteigen. Die Gefäße weiten
sich, die Haut wird durchblutet, die Lippen schwellen an. Der
Kuss wird zum biologischen Wellness-Programm.
Zugleich ist er ein positiver Kick für die Seele. Dafür
sorgen vor allem die Endorphine, so genannte Glückshormone.
Der Körper schüttet sie vermehrt aus, wenn wir uns liebevoll
küssen. Im Zwischen- und Großhirn sorgen die chemischen
Botenstoffe für ein wahres Stimmungshoch. Wir fühlen
uns glücklich, geborgen und wohl.
Der Ursprung des Küssens
Männer und Frauen, Alte und Junge,
Bewohner unterschiedlicher Kontinente - alle kennen und pflegen
den Kuss. Er ist Teil der zwischenmenschlichen Kommunikation.
Dabei hatte die Sitte, sich mit den Lippen zu berühren, am
Anfang unserer Entwicklungsgeschichte vermutlich eine ganz andere
Bedeutung als heute: Sie sicherte unser Überleben.
"Atzkuss" heißt diese mögliche Quelle des
Küssens im Fachjargon. Der Begriff bezeichnet die ursprünglich
bei Mensch und Tier übliche Mund-zu-Mund-Fütterung.
Die Mutter versorgte ihren Nachwuchs, indem sie ihm mit den Lippen
vorgekaute Nahrung oder zerkleinerte Bissen reichte. Bei vielen
Naturvölkern ist diese sorgsame Form der Fütterung weiterhin
gang und gäbe. Überwiegend haben jedoch Flasche und
Löffel die Mund-zu-Mund-Fütterung ersetzt.
Studien zeigen allerdings: Babys besitzen immer noch einen Reflex,
der diesem Fütterungsritual entspringen könnte. Nähert
die Mutter ihre Lippen dem drei Monate alten Kind, wölbt
es ihr seine entgegen. Berühren ihre Lippen die des Säuglings,
schiebt er seine Zunge vor und leckt am Mund der Mutter. Ganz
so, als wolle er etwas zu essen empfangen.
Eine denkbare Vorstufe des Küssens beobachteten Verhaltensbiologen
bei den Menschenaffen. Schimpansen füttern nicht nur ihren
Nachwuchs von Mund zu Mund. Auch erwachsene Tiere überreichen
sich hin und wieder mit den Lippen etwas Nahrhaftes. Darüber
hinaus begrüßen sich einander freundlich gesonnene
Exemplare mit einer kussähnlichen "Leergeste":
Sie berühren sich mit den Lippen, ohne dass dabei Futter
im Spiel ist.
Und es gibt eine auffällige Parallele zwischen dem ursprünglichen
Atzkuss und der modernen Geste, die noch heute besteht: Bei der
Mund-zu-Mund-Fütterung brachte die Mutter dem Kind Zärtlichkeit
und Nähe entgegen. Das Kleine fühlte sich geborgen und
wohl. Wir vermitteln mit einem Kuss Verbundenheit, Liebe und Freundschaft.
Und fühlen uns sicher und akzeptiert, wenn wir geküsst
werden.
- Roger Heinke -